Hi Sasha,
Du schreibst:
"Mit viel Angst reingehen, mit weniger rauskommen. Wenn ich wenigstens wüsste WAS mir angst macht. Ich hab eher das Gefühl ich gehe mit wenig Angst rein und komme mit mehr Angst raus! Genau umgekehrt... Immer.
Mein Therapeut sagte, als ich meinte "ich weiß doch gar nicht, warum ich angst habe" -> "Genau deshalb sind Sie ja hier! Wenn Sie das wüssten wäre es ja einfach!" "
Es ist für mich nicht ganz einfach bzw. noch ungewohnt über das Medium Internet therapeutisch zu arbeiten. Ich kann weniger nachfragen und schieße häufiger aus der Hüfte. Ich hoffe, du kannst mir das nachsehen.
Bei dir scheint es allerdings nicht so kompliziert zu sein. Wie die meisten Angstpatienten suchst du nach einem Grund für deine Angst. Meist gibt es aber nicht den einen Grund, sondern es besteht ein Angstkreislauf mit verschiedenen Auslösern und aufrechthaltenden Faktoren (s. hierzu aus 2 Faktorenmodell nach Mowrer). Daher ist die Suche nach dem einen Grund auch müßig. Es ist ein bisschen so, als würde man exzessiv darüber grübeln, was wohl zuerst da war, die Henne oder das Ei.
Du schreibst in anderen Thread, dass deine größte Angst ist, dass du wieder "versagt" und dies dann letztendlich dazu führen wird, dass du nur noch zu Hause auf Toilette kannst und, wenn ich es richtig verstanden habe, dass du auch befürchtest ggf. selbst in Abwesenheit anderer nicht mehr pinkeln zu können.
Somit hast du ein recht gutes Verständnis davon, was deine Angst ist. Verabschiede dich davon wissen zu wollen, was dir Angst
macht (externe Sichtweise) und versuche dir klarzumachen, dass du dir durch deine Vorstellungen selber Angst machst (internale Sichtweise). Das ist natürlich erstmal eine bittere Pille, ist aber wichtig um therapeutisch wirklich einen Ansatzpunkt zu bekommen. Wenn tatsächlich irgendwer oder irgendwas von Außen uns Angst machen würde, wären wir dem wahrscheinlich hilflos ausgeliefert. Wenn wir uns selbst Angst machen, können wir das besser beeinflussen.
Soweit so gut. Offensichtlich hast du Versagensangst und Angst vor einem Worst-Case-Szenario. Hiermit kannst du arbeiten. Meiner Meinung nach ist es eine Fehleinschätzung zu denken, wenn ich erstmal den Grund meiner Angst gefunden habe, bin ich das Problem los. Dies führt im Umkehrschluss zu der Annahme: "das Problem besteht ja noch, also kann ich den Grund noch nicht kennen" . Häufig führt das ständige Grübeln über den Grund (so gut ich das auch nachvollziehen kann) zur Verschwendung von Energie, die im therapeutischen Prozess an anderer Stelle gebraucht wird (z.B in Aktion zu kommen).
Also nochmal. Versagensangst. Das würde auch erklären, warum du mit wenig Angst auf Toilette gehst, der Angstpegel (AP) dann aber ansteigt.
Versagensangst ist eine Erwartungsangst, die zunimmt, wenn das erwartete negative Ereignis näher rückt oder wahrscheinlicher wird.
Wichtig ist es auch in diesem Fall nach den Regeln der Konfrontation zu arbeiten und die Toilette möglichst erst wieder zu verlassen, wenn der AP etwas gesunken ist.
Ich schlage, dir vielleicht einfach mal 2 Übungen vor. Wir können hier noch endlos über die Problematik theoretisieren. Ich bin aber eher für Machen. Schau einfach mal, ob das für dich passt, wenn nicht, kein Problem, dann finden wir was anderes oder theoretisieren noch ein bisschen weiter
Übung 1:
Nimm mit deinem Smartphone während der Hauptbürozeit die Hintergrundsgeräusche für eine halbe Stunde auf. Höre diese Aufnahme dann jedesmal, wenn du alleine im Büro bist und auf Toilette gehst. Wenn du pinkeln kannst, erschwere die Übung im nächsten Schritt indem du die Augen schließt und dir intensiv vorstellst, deine Kollegen, Chef, etc sitzen im Nebenraum. Auch wenn das problemlos gehst, spiele die Aufnahme immer wieder ein und gehe möglichst immer, wenn du alleine bist (auch bei niedrigem Harndruck)
Übung 2:
Ich glaube, ich habe gelesen, dass du in der Mittagspause zu Hause auf Toilette gehst.
Gehe ab jetzt JEDEN TAG einmal auf die Bürotoilette
bevor du nach Hause zum Pinkeln gehst. Schreibe dir vorher eine Karteikarte, auf der sinngemäß, in deinen eigenen Worten, folgender Text steht:
Ich gehe jetzt auf diese Toilette. Ich weiß, dass ich Schwierigkeiten mit dieser Toilette habe, wenn meiner Kollegen anwesend sind. Wahrscheinlich werde ich wieder nicht Pinkeln können. Das macht aber nichts. Ich möchte mich meiner Versagensangst stellen und ich vertraue darauf, das mich diese Übung weiterbringt. Jetzt übe ich mich erstmal in Geduld. Es kann Wochen oder Monate dauern, bis ich auf dieser Toilette pinkeln kann, wenn meine Kollegen anwesend sind. Ich versuche mich nach der Übung zu loben, dafür dass ich den Mut aufgebracht habe, egal ob ich pinkeln konnte oder nicht. Wenn ich zu kritisch mit mir bin, werde ich das merken und versuche sanfter und verständnisvoller mit mir umzugehen.
Lies diese Karteikarte jedesmal bevor du die Übung machst.
Streng dich bei der Übung nicht zu sehr an, gehe erstmal davon aus, dass du sie mindestens 3 Monate machen musst bevor der erste Tropfen kommt. Eingestreute längere Übungen sind sinnvoll, häufig aber nicht praktikabel. Du kannst dir erstmal ein Zeitfenster von 3 Minuten pro Übung setzen. Somit investierst du für diese Übung in 3 Monaten bei 5 Arbeitstagen ca. 180 Minuten.
Das Prinzip ist einfach. Konfrontation bedeutet sich seiner Angst auszusetzen. Bei Angst vor Höhe, setzt zu dich Höhe aus. Bei Angst vor Spinnen, setzt du dich Spinnen aus. Bei Angst vor Versagen, setzt du dich Versagen aus
Kein Witz, so machen wir das tatsächlich in der Verhaltenstherapie. Und es funktioniert.
Natürlich ist das Versagen auch eine Frage der Definition. Und du bist diejenige, die das definiert. Also ist hier auch Veränderung der Definition wichtig. s.hierzu das, was Andreas und ich oben im Thread gesagt haben.
Du schreibst:
Genau das fühle ich.... Auch hierfür danke Alex!
"Wie bewerte ich die Sache?" ....
Aber wie soll man es sonst sehen, wenn man versucht hat zu pinkeln und es nicht ging....
Du kannst es so sehen:
"Offensichtlich ist mein System weiter in der Angstreaktion, deshalb wird die Blase verschlossen um mich auf die Fluchtreaktion vorzubereiten. Das macht auch perfekten Sinn. Flucht scheint für mein System aktuell wichtiger zu sein, als pinkeln zu können. Wenn ich diese Übung konsequent weiter mache wird mein System sich hier in diesem Raum sicherer fühlen und ich werde es davon überzeugen können, das es ok ist hier zu pinkeln."
Es ist wichtig, dass du Verständnis für dich und deine Problematik aufbringst. Und du brauchst viel Geduld. Nimm dir die Zeit, du bist auf einem guten Weg. Du musst das Problem nicht beim nächsten Toilettengang lösen.
Wenn du dich für das hier vorgeschlagene Vorgehen entscheidest, gib in diesem Thread Rückmeldung, wie es läuft.
Alex