Mein Bericht

Hier gibt es alles zum Thema psychische Entleerungsstörung
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Christian

Mein Bericht

Beitrag von Christian »

Hey Leute,
auch ich habe für lange Zeit unter Paruresis gelitten und weiss wie schlimm
diese Krankheit sein kann und wie sehr sie einen vereinnahmen kann. In
vielen Situationen war ich durch sie durch selbstzerstörerische Gedanken
getrieben kaum in der Lage mich vor anderen zu entspannen und mich fallen zu
lassen. Die einzige, die davon wusste war meine damalige Freundin, selbst
meine Familie wusste nicht über mich Bescheid. Auf jeden Fall habe ich mich
durch die Krankheit isoliert, bin zwar schon auf Party’s gegangen und habe
recht viel unternommen, doch die Isolation war hauptsächlich gedanklich. Ich
habe immer etwas geheimgehalten, auch meine besten Freunde wussten nicht
alles über mich und dieses Geheimnis musste ich dann z.B. in Situationen,
wenn man zusammen weggegangen ist, bewahren.
Ich sage kurz was zu meinen damaligen Symptomen von Paruresis: Ich konnte
ausschließlich in geschlossenen Räumen urinieren und selbst das hat in
manchen Situationen, vor allem wenn ich irgendwo zu Gast war und die
Toilette sich in der Nähe des Aufenthaltsraums befand nicht funktioniert.
Wenn andere anwesend waren, also in öffentlichen Toiletten hatte ich des
öfteren Probleme in der geschlossenen Kabine zu urinieren. Zeitdruck war ein
sicherer Indikator für mein (von mir damals so empfundenes) Versagen. Vor
allem hat das dazu geführt das ich mich vor anderen verschlossen habe, das
ich mich selbst immer eher als Außenseiter wahrgenommen habe, das das
Verhältnis zu meiner Familie nicht offen war, was aber noch andere Gründe
hatte und letztendlich, dass ich viel gekifft habe.
Das alles war ein ziemlicher Teufelskreis, bis ich dann zu einem Punkt
gekommen bin, wo ich dachte, dass ich kurz davor bin richtig durchzudrehen.
Die Beziehung zu meiner Freundin ist auf übelste Weise in die Brüche
gegangen, meine körperliche Verfassung war (vor allem durch das Kiffen)
miserabel, ich hatte keine berufliche Perspektive und habe dazu noch
erfahren müssen, dass ich eventuell unfruchtbar bin, da ich Krampfadern und
eine bakterielle Entzündung im Hoden (leider noch immer) habe.
Als ich dann an diesem Punkt angelangt bin, war für mich ganz klar, dass es
so nicht weitergeht und das ich zwei Möglichkeiten habe. Ich habe mich
entschieden, und seitdem sind so viele wunderschöne Dinge in meinem Leben
passiert. Ihr merkt, dass meine Probleme etwas über die Krankheit Paruresis
hinausgehen, ich möchte aber versuchen den Schwerpunkt darauf zu legen.
Der erste Schritt war, dass ich mich vor den anderen nach und nach geöffnet
habe. Ich habe zuerst meiner Familie von der Krankheit erzählt, dann meinen
engen Freunden. Ungefähr zu dieser Zeit habe ich mich zum ersten mal der
Krankheit gestellt. Ich bin auf eine öffentliche Toilette an einer
Autobahnraststätte gegangen und bin nicht in die Kabine gegangen, sondern
habe mich zu den anderen gestellt, fürchterliches Herzklopfen gehabt und
natürlich keinen einzigen Tropfen Urin verloren. Ich habe sehr auf die
anderen geachtet, war gar nicht in meiner eigenen Haut, fand die Situation
peinlich und die Ängste, die hinter der Krankheit standen sind hochgekommen.
Obwohl diese Erlebnisse, von denen es noch zahlreiche gab immer unglaublich
viel Kraft gekostet haben, da einfach immer genau das passiert ist vor dem
ich so unsagbar viel Angst hatte, nämlich dass ich vor anderen stehe und
nicht urinieren kann, ist nach und nach ein Gefühl in mir entstanden, das
mir gesagt hat, dass es gut ist wie ich handele und dass ich weitermachen
muss. Trotzdem gab es immer wieder die Situation, wo ich es nicht geschafft
habe mich zu stellen, auf die Kabine gegangen bin ohne mich vorher der
Situation auszusetzen. Irgendwann gab es dann Situationen mit meinen engeren
Freunden, wo ich mich ebenfalls der Angst gestellt habe, mich also mit ihnen
zum gemeinsamen Pinkeln begeben habe und wo wiederum gar nichts ging. Die
Früchte dieser Konfrontationen, die echt im ersten Moment einfach furchtbar
waren, habe ich dann nach und nach durch ein stetiges, immer größer
werdendes Gefühl von Stärke getragen: Ich setzte mich meinen Ängsten aus,
ich habe den Mut zu versagen, vor anderen dazustehen und nicht urinieren zu
können. Dadurch dass ich Mut aufgebracht habe ist meine Kraft und neuer Mut
gewachsen, ganz ganz langsam und lange Zeit ohne es zu merken. Und was
letztendlich das Resultat von diesem Prozess und auch mein Ziel war, das
Vertrauen in mich ist gewachsen. Ich habe darauf weiteren Leuten von meinem
Problem erzählt. Ich studiere einen medizinischen Beruf und wir sollten ein
Gesundheitsprofil von uns selbst erstellen. Ich habe dann vor einer Gruppe
von 10 Leuten samt Dozenten mein Problem vorgetragen, was auch wieder eine
Menge Mut gekostet hat, aber wodurch ich so viel gewonnen habe. Ich habe
daraufhin eine Party bei mir veranstaltet, und ich wusste, alle wissen von
meinem Problem. Und anstatt den Befürchtungen die ich immer hatte, alle
würden sich über mich lustig machen etc. bin ich auf Verständnis gestoßen,
habe ich es zum ersten mal geschafft mich in einer Gruppe so richtig wohl zu
fühlen. Das Erlebnis war unendlich schön. Sicherlich gab es Gespräche hinter
meinem Rücken, aber es ist so viel wichtiger ehrlich zu sein und zu sich zu
stehen, man kann nur daraus gewinnen.
Das Problem war noch nicht weg und dadurch, das alle nun davon wussten gab
es Momente, wo die Angst stärker als je zuvor präsent war. Selbst zu Hause
hatte ich teilweise Probleme zu urinieren, ich konnte mich nicht mehr
verstecken und zurückziehen. In meinem Studium bin ich eine Zeit lang im
zehn Minuten Takt auf die Toilette gegangen, ich habe wieder Situationen
vermieden, ich hatte Angst, dass jetzt, wo ich so viel unternommen habe das
Ergebnis ja auch ausbleiben kann und ich immer mit dieser Krankheit leben
muss. Doch das Vertrauen, auch wenn es oft nicht so spürbar und schnell wie
die Angst ist, ist stetig und wächst, wenn man sich seinen Ängsten stellt,
das habe ich für mich gelernt.
Dann kam der Tag, an dem ich meine Angst überwunden habe, ich wusste, dass
es noch einmal an der Zeit war sich zu konfrontieren und bin auf eine sehr
stark besuchte öffentliche Toilette gegangen. Darauf habe ich dann ungefähr
anderthalb Stunden verbracht. Menschen kamen und gingen, einige Kinder waren
dabei und haben zum Lautstärkepegel beigetragen, eine Putzfrau ist
irgendwann gekommen und hat um mich herum geputzt. Ja sogar ein älterer Herr
hat sich neben mich gestellt, konnte nicht urinieren, war durch meine
Anwesenheit peinlich berührt und hat zu mir rübergeschielt, worauf ich ihn
mit Blicken zurückgewiesen habe. Es war mir nicht mehr peinlich. Er ist dann
gegangen ohne zu urinieren. Ein anderer hat sich zuerst ans Pissoir gestellt
und ist danach mit einer zornigen Geste in die Kabine gegangen. Das war für
mich das erste Mal, dass ich einen anderen Menschen gesehen habe, der
ebenfalls unter dem Problem leidet. Als ich gemerkt habe, dass ich noch
nicht kann und meine Beine langsam schwer wurden, bin ich dann etwas trinken
gegangen und wieder zurückgekehrt. Dann, irgendwann war sie weg die Angst,
kam das Vertrauen, war die Umgebung für mich das was sie für viele andere
Menschen auch ist: Ein Raum ohne Angst und Hintergedanken, eine Umgebung in
der man sich entspannen kann. Seit diesem Tag setze ich mich stetig der
Situation aus, aber etwas ist anders. Ich habe die Gedanken erkannt, die
mich blockieren, ich kann sie abstellen, sie leben noch manchmal auf, aber
sie herrschen nicht mehr über mich.
Der Grund warum ich das schreibe ist, dass ich mir wünsche dass es
vielleicht jemanden gibt der das liest und dem das hilft, der vielleicht
einen Gedanken daraus gewinnen kann, der ihm auf seinem Weg mit seiner
Krankheit umzugehen weiterbringt. Ich wünsche Euch Mut und Kraft. Alles Gute
Christian
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