Anleitung zum Expositionstraining in Eigenregie

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Alex Beisenherz
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Anleitung zum Expositionstraining in Eigenregie

Beitrag von Alex Beisenherz »

Ich beziehe mich hier auf den folgenden Thread des User Puffi
https://www.paruresis.de/forum/viewtopi ... 7092#p7092

Wenn ihr, wie er, ebenfalls Expositionstraining durchführen wollt, hier noch einige Hinweise, die hilfreich sein könnten:
(1) Übt im mittleren Schwierigkeitsbereich (auf einer 0-10 Skala maximal 7). Wenn Pinkeln in einer Kabine z.B für Euch eine 9 ist, setzt euch erstmal auf die geschlossene Klobrille und pinkelt nicht. Versucht euren Angstpegel immer wieder neu einzuschätzen, wenn dieser Anfangs z.B eine 7 ist, versucht die Kabine erst wieder zu verlassen, wenn der Pegel auf 4 gesunken ist (also 3 Einheiten runter). Dieser Adaptationsprozess dauert in der Regel 30-45 Minuten. Während Puffi den Tropfen Urin beim ersten mal als Erfolg gewertet hat, wertet ihr jetzt schon das Absinken des AP von 7 auf 4 als Erfolg und belohnt Euch dafür (Nein, Eigenlob stinkt nicht). Eure erste Exposition hat gut geklappt.
(2) Ihr könnt in dieser Übung anfangs mit der kognitiven Umstrukturierung arbeiten. (Gedanken sind keine Tatsachen)
Schaut in welche Richtung Eure negativen Gedanken gehen, versucht nach bedarf gegen zu strukturieren:
-Ich darf hier sein
-Es gibt keine Regelung, wie lange man in einer Kabine verweilen darf. Ich mache nichts verbotenes
-Es ist nicht so wichtig, was andere von mir denken
-Wahrscheinlich denken die anderen eher an ihr eigenes Leben, oder sonstwas. Wieso sollte ich denen wichtig sein?
-Was anderen von mir denken, sagt nichts über meine Person aus, sondern nur über deren Sichtweise von mir.
- Wenn jemand jetzt dringend auf Toilette gehen muss, soll er sich eine andere Kabine suchen. Diese Übung ist für mich extrem wichtig.
(2a) Wenn ihr fortgeschritten seid, lasst die kognitive Umstrukturierung. Ihr werdet verstehen, dass die Gedanken einfach ein Symptom eurer Angst sind. Ihr könnt sie beobachten, müßt ihnen aber nicht zuviel Bedeutung beimessen. Lass die Angst zu, versucht nicht dagegen zu arbeiten. Ihr habt irgendwann euer Pulver verschossen und sie geht von alleine weg. Dann wird es langweilig und ihr könnt die Exposition erfolgreich beenden.
(3) Wenn ihr Pinkelübungen macht versucht Eure Aufmerksamkeit nicht so sehr auf das Pinkeln zu lenken. (Ihr habt kein Problem mit dem Pinkeln, zu Hause klappt es ja auch. Ihr habt ein Problem mit der Angst).
Stattdessen monitort ihr Euren Angstpegel und eure Gedanken. Das ist aber auch schon alles, was ihr bei Euch monitort. Ansonsten konzentriert ihr Euch vorwiegend auf die Aussengeräuche und visuellen Wahrnehmungen. Ihr könnt diese auch still, gendanklich benennen, wie es in der Achtsamkeitstherpie gemacht wird: "Da geht einer", "er räuspert sich" " aha, ein Reissverschluss" "Türgeräusch" "Handlüfter" "Kaugummi an der Wand" u.s.w. Ihr werdet erstaunt sein, was es in einer öffentlichen Toilette so alles wahrzunehmen gibt...
(4) Übt regelmäßig und immer, wenn sich dazu eine Gelegenheit ergibt (auch wenn ihr nicht müßt). Je mehr Zeit ihr auf öffentlichen Toiletten verbringt, desto früher seit ihr das Problem los. Vermeidung ist der Prozess, der Euch dieses Problem aufrecht erhält. Wenn ihr es schafft, euch häufiger anzunähren als zu vermeiden seid ihr auf einem guten Weg und macht den Chronifizierungsprozess rückgängig (Ihr werdet gesünder)
(5) Macht Euch nicht zu erfolgsabhängig. Nein, Ihr seid keine Versager, nur weil es mit dem Pinkel nicht geklappt habt. Im Gegenteil: Ihr seid mutig, weil ihr Euch getraut habt es zu versuchen. Weiter so. No risk no fun.
(6) Baut auch Euer Sicherheitsverhalten ab. Bei dieser Übung ist ein häufiges Sicherheitsverhalten z.b. muksmäuchenstill zu sein, damit keiner mitkriegt, dass ihr dort sitzt. Wenn ihr euch unsichtbar machen wollt, ist wahrscheinlich die beste Strategie gar nicht erst in die Exposition zu gehen. Wirkt diesem Verhalten entgegen indem ihr Euch z.B räuspert, bewegt oder sonstige Geräusche macht. Der Angstpegel wird ansteigen, wenn ihr Sicherheitsverhalten abbaut. Längerfristig lernt ihr aber mit Angst umzugehen.

So und nun viel Spaß beim Üben. Ich freue mich über Eure Erfahrungen und eure Rückmeldungen/ Fragen

Alex
Zuletzt geändert von Alex Beisenherz am 20. März 2018 20:58, insgesamt 1-mal geändert.
NeeNee
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Re: Anleitung zum Expositionstraining in Eigenregie

Beitrag von NeeNee »

Hallo Herr Beisenherz.

Ich bin gerade dabei Expositionsübungen in Eigenregie, sowie mit einem PeeBuddy durchzuführen.
Vieler Ihrer Tips beherzige ich bereits und finde die Zusammenstellung sehr gut.
Nur in einem Punkt bin ich nicht ganz bei Ihnen.
Alex Beisenherz hat geschrieben: 16. März 2018 18:11 Ansonsten konzentriert ihr Euch vorwiegend auf die Aussengeräuche und visuellen Wahrnehmungen. Ihr könnt diese auch still, gendanklich benennen, wie es in der Achtsamkeitstherpie gemacht wird: "Da geht einer", "er räuspert sich" " aha, ein Reissverschluss" "Türgeräusch" "Handlüfter" "Kaugummi an der Wand" u.s.w. Ihr werdet erstaunt sein, was es in einer öffentlichen Toilette so alles wahrzunehmen gibt...
Damit habe ich und bestimmt nicht nur ich eben deshalb Probleme. Beim hinhören.
"er räuspert sich" _ kenne ich den nicht? Ist das nicht der Chef?
"Türgeräusch" = Da kommt schon wieder jemand rein, oder raus und ich bin einer weiteren Person "ausgesetzt"
"Da geht einer" = Kommt er rein? Geht er? Ist es vielleicht ein Bekannter?
"Handlüfter" _ Geht er danach raus? Bleibt er noch? Was macht er danach?
" aha, ein Reissverschluss" = schau mal, der kann es im stehen, was du nicht kannst.

Bei mir jedenfalls erzeugen diese Dinge regelmässig Ängste und Frust. Ich habe dies auch schon mit meiner Therapeutin besprochen.
Deshalb versuche ich diese Geräusche auszublenden und an etwas außerhalb der Toilette zu denken.
- Was kaufe ich heute noch ein
- Kommt heute Abend nicht der schöne Film im TV?
- Check mal Deine Mails am Smartphone

Das genaue hinhören habe ich nur ganz am Anfang gemacht, als es darum ging, wahrzunehmen, dass es völlig normal ist,
dass es bei einem länger als bei dem anderen dauert und es alles normal ist.

Andreas
Alex Beisenherz
Medizinischer Experte
Beiträge: 66
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Re: Anleitung zum Expositionstraining in Eigenregie

Beitrag von Alex Beisenherz »

[quote=NeeNee post_id=7094 time=1521241864 user_id=10696]
Hallo Herr Beisenherz.

Hallo Andreas,
ich erlaube mir einfach mal das Du, weil das ja hier die allgemeine Ettiquette ist und ich sonst nicht mehr weiß mit wem ich hier auf Du oder Sie bin. Ich hoffe, das ist ok.

Erstmal finde ich es super, dass Du dich für Expositionen interessierst und mit dem Üben anfängst. Vielen Dank auch für deine Rückmeldung zu meinem Beitrag.

"Damit habe ich und bestimmt nicht nur ich eben deshalb Probleme. Beim hinhören.
"er räuspert sich" _ kenne ich den nicht? Ist das nicht der Chef?
"Türgeräusch" = Da kommt schon wieder jemand rein, oder raus und ich bin einer weiteren Person "ausgesetzt"
"Da geht einer" = Kommt er rein? Geht er? Ist es vielleicht ein Bekannter?
"Handlüfter" _ Geht er danach raus? Bleibt er noch? Was macht er danach?
" aha, ein Reissverschluss" = schau mal, der kann es im stehen, was du nicht kannst."



Bei mir jedenfalls erzeugen diese Dinge regelmässig Ängste und Frust. Ich habe dies auch schon mit meiner Therapeutin besprochen.
Deshalb versuche ich diese Geräusche auszublenden und an etwas außerhalb der Toilette zu denken.
- Was kaufe ich heute noch ein
- Kommt heute Abend nicht der schöne Film im TV?
- Check mal Deine Mails am Smartphone


Ja, ich kann das gut nachvollziehen. Dennoch ist das was Du machst eine Ablenkstrategie die in den Bereich der Vermeidung von Angst fällt (Sicherheitsverhalten). Das ist auch ganz normal, so vorzugehen. Wir handeln kurzfristig und wollen unsere Angst reduzieren. Längerfristig führt Vermeidung (auch gedankliche Vermeidung) dazu, dass die Paruresis bzw. die Angsterkrankung erhalten bleibt. In Fachkreisen gehen die Meinungen, ob Ablenkung ANFANGS in Expositionen ein geeignetes Mittel ist auseinander. Es gibt Hardliner und weniger Hardliner. Ich gehöre eher zu den weniger Hardlinern, finde es aber ganz wichtig sich seine Ablenk- und Sicherheitsstrategien bewusst zu machen, wenn man sie benutzt.

Längerfristig geht es darum während des Expositionstrainings jegliche Strategien abzulegen, die darauf angelegt sind Angst bewusst abzubauen. Das macht auch Sinn. Ein Expositionstraining ist ja ein Training sich seiner Angst auszusetzen (exponere - sich aussetzen). Die wunderbare Erfahrung die dabei auf einen wartet, ist die Erfahrung, dass die Angst von alleine weg geht. Man bauch gar nichts machen, ausser sich auszusetzen (und zu versuchen nicht in die Vermeidungsfalle zu tappen)

Dennoch finde ich es gut, dass du dir offensichtlich schon deiner negativen Bewertungen (Kognitionen) bewusst bist und diese hier auch posten kannst.
Es gibt sehr viele verschiedene Möglichkeiten, hier weiter zu machen (und nicht in die Ablenkung zu gehen).
zwei will ich kurz erwähnen:
(1)Fang mit dem bewertunsfreien Benennen in einer neutralen Situation an. z.B Bushaltestelle (Frau mit rotem Mantel, wirft Geldstück in Automaten, braune Lederschuhe, Hupen von rechts, Kinderschreien von links...usw. Mache dir immer bewußt, wenn Bewertungen einfließen und kehre zurück zum achtsamen Benennen)
Trage die Übung danach in eine öffentliche Toilette, verbiete dir aber zu Pinkeln (leere Blase, Hose anlassen, auf geschlossenem Klodeckel sitzen). Wenn Angst aufkommt versuche so lange da zu bleiben, bis der Angstpegel mindestens um 3 Stufen gesunken ist.

(2) Arbeite mit deinen negativen Kognitionen:
a) kognitiv umstrukturierend
"er räuspert sich" _ kenne ich den nicht? Ist das nicht der Chef?
Selbst wenn es der Chef ist, ich darf hier sein. Ich brauche die Privatshäre dieser Kabine und stehe dazu
"Türgeräusch" = Da kommt schon wieder jemand rein, oder raus und ich bin einer weiteren Person "ausgesetzt"
Ja, deshalb bin ich ja hier, ich will lernen mich solchen Situationen und anderen Personen auszusetzen. Gut wenn da jemand kommt. Dann kann ich was lernen. Alleine pinkeln kann ich ja schon. Ich will raus aus der Vermeidung.

b) Vorstellung eines Worst-case Szenrios. Kontraphobisches Vorgehen. Humor.

Hierzu kann man sich Dinge vorstellen, die ggf. erstmal MEHR Angst erzeugen (Expositionsprinzip). Wenn man kreativ genug ist, kann das dann aber auch ganz lustig werden. Humor und Angst gehen nicht gut zusammen. Hilfreich ist es sich ein mentales Drehbuch zu schreiben.
"Da geht einer" = Kommt er rein? Geht er? Ist es vielleicht ein Bekannter? "
mentales Drehbuch: ich ruf gerade mal aus der Kabine: Hey, bist Du es Fritz....keine Antwort...ich meine dich am Schritt erkannt zu haben......keine Antwort......lauter und energischer: ....Ey Fritz, du bist es doch. Ich hab da ein Gespür für.....find ich doof, dass du jetzt nicht mit mir redest......Naja.....Vielleicht hast du Pinkelhemmung.,,,,, warte doch gleich mal draussen........ ich brauch auch nur noch 20 Minuten......bin auch am Üben.......(fast schreiened).....Na dann bis gleich.......Tschööööö!

"Handlüfter" _ Geht er danach raus? Bleibt er noch? Was macht er danach?
mentales Drehbuch/ Worst Case Szenario: Vielleicht kommt er zurück. Er hat nämlich gesehen, dass da einer sitzt, der da gar nicht hingehört. Rüttelt erstmal an meiner Tür. Wer da? Ich sage nichts, erstarre.... Da ist doch jemand? Dann schiebt er langsam den Spiegel unter der Tür durch. So einen auf Rollen, den die DDR Vopos immer benutzt haben. Unsere Augen treffen sich im Spiegel. Meine Birne ist knallrot. Er schreit nach dem Hausmeister, der sofort da ist und das ganze eine ziemliche Unverschämtheit findet. Die Kabinentür wird geöffnet. Ich kann nichts sagen, bin erstarrt. Beide tragen mich in meiner Hockhaltung mit rotem Kopf durch einen Spalier von ungläubig kaffenden Toilettenbenutzern raus (mein Chef ist natürlich auch dabei)

Herzliche Grüße,
Alex
Alex Beisenherz
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
ärztlicher Psychotherapeut
Verhaltenstherapie, EMDR
MJay
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Beiträge: 6
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Re: Anleitung zum Expositionstraining in Eigenregie

Beitrag von MJay »

Starke Aussagen, die bei mir nachwirken. Was ich mir insbesondere "mitnehme":

1. Ich habe kein Problem mit dem Pinkeln, sondern mit der Angst.
2. Jede "mutige" Situation, in die ich mich begebe, ist ein Erfolg - egal, ob es da läuft oder halt mal nicht.
3. Die Vermeidung hält das Problem am Leben.

Ich finde das sehr hilfreich, danke dafür!
NeeNee
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Beiträge: 15
Registriert: 25. Februar 2018 20:58

Re: Anleitung zum Expositionstraining in Eigenregie

Beitrag von NeeNee »

MJay hat geschrieben: 18. März 2018 10:52 Starke Aussagen, die bei mir nachwirken. Was ich mir insbesondere "mitnehme":

1. Ich habe kein Problem mit dem Pinkeln, sondern mit der Angst.
2. Jede "mutige" Situation, in die ich mich begebe, ist ein Erfolg - egal, ob es da läuft oder halt mal nicht.
3. Die Vermeidung hält das Problem am Leben.

Ich finde das sehr hilfreich, danke dafür!
Ja, all diese Dinge lernt man in einer Verhaltenstherapie.

Mut.
Ja Mut ist essentiell. Ohne Mut geht hier nichts.
Aus diesem Grund startete meine Therapie zuerst mit Steigerung des Selbstwertes/Selbstbewusstseins.
Auch jetzt ist jede Expositionsübung eine immer noch eine Überwindung.

Vermeidung.
Wo fängt eigentlich schon Vermeidung an? Das ganze Leben besteht bei den meisten von uns aus Vermeidung.
Heute einen Spruch gelesen: "Das Leben beginnt dort, wo die Komfortzone endet."
In meinem Fall mit Paruresis, fängt es ja schon morgens um 5 an, wenn ich meine Getränke zur Arbeit einpacke.
Es ist schon verrückt, was man sich in den Jahren alles angeeignet hat und es nicht mal selbst merkt.

Andreas
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