ich habe heute den bericht eines ( ehemaligen ) betroffenen erhalten. wenn ihr mögt, könnt ihr ihm hier im thread direkt antworten.
gruß
carsten
Liebes Paruresis.de-Team,
Auch ich möchte gerne, wenn auch nicht in allen Details, meine Paruresis-Geschichte erzählen, und wie ich meine Situation verbessern konnte.Wenn ihr mögt veröffentlicht sie doch. Hoffentlich macht es anderen Mut!!!
Ich litt an Paruresis seit meinem 14. Lebensjahr, für mich genau jene Zeit in der erste ernsthafte sexuelle Gefühle erwachten und man lernen mußte damit umzugehen. Da bestand für mich jedenfalls ein Zusammenhang.
Ich bin von je her immer sehr schüchtern gewesen und sehr verunsichert durch diese Gefühlswelten. Zudem wurde ich in der Schule gehänselt, was insgesamt zur Folge hatte, dass mein Selbstvertrauen den Bach runterging. Versagensängste wurden durch das Auftreten der Paruresis sehr schlimm, der gefühlte Leistungsdruck in der Schule machte es auch nicht besser. Einigen wenigen Freunden denen ich mich anvertraute, konnte mein Problem mit dem Pinkeln nicht richtig nachvollziehen, empfanden es auch nicht als so schlimm, wie es sich mir subjektiv darstellte. Wie bei fast allen Betroffenen organisierte ich schließlich meinen Alltag nach dieser Phobie. Bestimmte Situationen wurde komplett gemieden, oder sorgfältig geplant. Mit der Zeit fühlte ich mich völlig von dieser Angst nicht Pinkeln zu können völlig eingenommen, meine Gedanken kreisten nur noch um dieses Thema. In Folge wurde ich immer depressiver, meine Aktionsradien immer kleiner.
Als ich schließlich zum Studieren in eine andere Stadt zog und viel auf mich allein gestellt war, verlies mich der Lebensmut, und ich kaum noch meine Wohnung. Damals war ich 22 und begann aus Frust zu trinken. Im Rausch erschien das Leben erträglich, die Angst aber blieb. Zum Glück erkannte ich schnell, dass dies nicht die Lösung sein kann, das ich so nicht weitermachen kann.( Auf deutsch gesagt: Ich war völlig am Ende) So suchte ich schließlich einen Therapeuten auf, der mit mir zunächst versuchte auf verhaltenstherapeutischen Weg eine Besserung herbei zuführen. Ich lernte Autogenes Training und visualisierte angstbesetzte Situationen, um sie in der Realität besser zu meistern. Leider muss ich sagen, das dieser Weg nicht wirklich mit Erfolg gekrönt war.
Da ich mich irgendwann, bei diesem Therapeuten nicht mehr gut aufgehoben fühlte, wechselte ich zur einer Gesprächstherapie. Dies war besser, da ich einfach über meine Probleme des Alltags reden konnte. Dadurch stärkte sich mein Durchsetzungsvermögen und mein Selbstbewusstsein immerhin bis zu dem Punkt, das ich wieder rausgehen konnte und wollte. Ich knüpfte schnell neue Freundschaften und lies den Alkohol weg. Ich konfrontierte mich dann selbst mit schwierigen Pinkel-Situationen. Zunächst nur im vertrauterem Umfeld, z.B. in der Uni, im Cafe an der Eckke etc. In dieser Zeit nahm ich auch Anti-Depressiva für einige Monate. Ich affirmierte mir stärker die Vorstellung „Wenn du jetzt pinkeln gehst, wird schon alles gut werden. Lass dir Zeit, setzt dich nicht selbst unter Druck“. Es dauerte etwas, bis ich mir das selber glauben konnte, aber es war entscheidend. Denn wenn man sich selber immer nur einredet, das es mit dem Pinkeln nichts wird, hilft einfach nichts. Wenn diese negative Affirmation so stark sein kann, muss es andersherum ja auch funktionieren. Mit der Zeit half das wirklich, denn die eigenen Gedanken kann man kontrollieren, man muss sie sich aber bewusst machen.
Ich erkannte, das ich selbst der Verursacher dieser Angst bin, das ich mir diese Angst selber mache. Schließlich, mit 28, verliebte ich mich und kam mit meiner heutigen Lebensgefährtin zusammen. Für mich ausschlaggebend war daran, das ich das erste mal in meinem Leben, sexuelle Gefühle erleben und ausleben konnte. Das löste viele alte „Seelenverkrampfungen“ schließlich auf. Zum ersten Mal konnte ich einen Menschen wirklich an mich heranlassen. Meine Freundin bestand dann darauf, einfach immer mit mir auf die Toilette zu kommen. Sie wartete einfach geduldig, erzählte mir irgendwas, machte mir Mut, bis ich fertig gepinkelt hatte. Natürlich ging das am Anfang nur sehr schlecht, aber tatsächlich gewöhnte ich mich daran und ich konnte in ihrem Beisein immer besser Wasser lassen. So konnte ich mir endlich vollends selber glauben:“Wenn du pinkeln musst, egal wo, wird das schon irgendwie klappen.“ Dieses Gefühl war sehr schön und machte mir viel Mut. Mit der Zeit meisterte ich mit dieser Einstellung immer besser, schwierige Situationen, wie z.B. auf einer Raststätte oder anderen stark frequentierten Orten. Ich benutzte zwar meistens die Kabinen, aber auch an Pissoirs traute ich mich manchmal heran (mache ich heute aber immer noch äußerst ungern).
Inzwischen bin ich 33 und habe mich Selbstständig gemacht.
Ich fühle mich tatsächlich von diesen „Altlasten“ befreit und genieße es. Mein Aktionsradius ist im Vergleich zu früher unendlich geworden. Natürlich kommen auch heute noch Situationen vor, wo es mit dem Pinkeln nicht so gut klappt. Im Vergleich zu früher ist es aber eine Verbesserung um 95%!!!. Wichtig ist es, nicht den Mut zu verlieren, nicht direkt zu verzweifeln, sich selbst nicht unter Druck zu setzen.
Mein Tipp für alle Betroffenen: Sucht euch eine Person, die ihr wirklich mögt, die euch mit eurem Problem ernst nimmt und die bereit ist mit euch das Pinkeln so zu üben, wir ihr das für richtig haltet. Ihr mögt euch zunächst nackt und verletzbar fühlen, aber es kann euch nichts geschehen. Ihr könnt nichts verlieren dabei, ausser der Angst. Macht euch nicht selber verrückt, seit euch bewußt das ihr es selbst seit, die diese Angst erzeugen. Stellt euch nicht so viele Fragen,warum das so ist.
Natürlich ist auch hier der Anfang das Schwerste, schließlich haben die meisten ja Jahre mit der Angst verbracht. Sie wird nicht schlagartig verschwinden, sondern in einem Tempo das eurer Persönlichkeit entspricht. Man muss sich nämlich auch erst daran gewöhnen, das diese Angst schwächer wird.
Vermutlich wird ein kleiner Rest zurück bleiben, aber das wird euch egal sein, wenn die ersten Erfolgserlebnisse kommen und sich verfestigen.
Viel Erfolg! Ihr seit nicht alleine, es gibt unzählige von uns.
Ussel
:::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::