Erfolgsbericht von Michael

Hallo Leute,

durch die webweite Publizierung von Jürgen habe ich nun auch durch Zufall zu eurer Seite gefunden. Daher habe ich beschlossen euch nun auch einmal meine Geschichte zu erzählen. Mein Problem habe ich schon seit ich denken kann, also nicht wie viele hier beschreiben erst seit der Pubertät. Mittlerweile weiß ich auch ungefähr, warum sich das so entwickelt hat. Durch ein traumatisches Erlebnis während meiner frühen Kindheit, hatte ich einige Jahre lang Angst vor Männern, wollte keiner werden und diese Verhaltensweisen nicht annehmen. Ich muss etwa um die 4 Jahre gewesen sein damals.

So habe ich von Anfang an immer nur zu Hause auf der Toilette sitzend uriniert. Schon von Anfang an habe ich mit Einschränkungen leben müssen, die mein Leben bestimmt haben. Wenn ich zum Beispiel mit anderen Kindern im Wald gespielt habe, bin ich 2 Kilometer nach Hause gelaufen zum Pinkeln und als ich zurück kam, war oft niemand mehr da. Aus diesem Grund bin ich auch nicht bei irgendwelchen Ferienfreizeiten mit dem Turnverein o.ä. mitgefahren. Natürlich wollte ich etwas daran ändern aber meine Eltern sahen das Problem und versuchten damals mit Bestechung mein Pinkelverhalten zu normalisieren. Aus kindlichem Trotz und weil es nicht nach käuflichem Verhalten sondern nach eigenem Willen (der es auch wirklich war) aussehen sollte, habe ich mein Verhalten jedoch nicht geändert.

So ging mein Leben weiter, wie viele es beschreiben. Mein Aufenthalt in der Öffentlichkeit, wie lange ich irgendwo sein konnte, hing ganz alleine von meinem Blasenfüllstand ab. Ich habe genau geplant, wann ich wie viel trinken konnte um zum Beispiel während der Schulpausen nicht zur Toilette gehen zu müssen. Erst mitten in der Pubertät habe ich beschlossen wirklich dauerhaft etwas zu ändern. Ich übte immer dann wenn ich ungestört war das Urinieren im Wald, den Umgang mit Urinalen und öffentlichen Toiletten und nach einiger Zeit klappte es auch ganz gut, wenn ich alleine war. Aber wo, bei welchen Veranstaltungen etc. ist man normalerweise alleine? Dieser Fortschritt machte mich zwar erst mal glücklich aber richtig weiter geholfen hat er mir nicht.

So plante ich auch in meiner weiterführenden Schule (wo ich den Besuch der Toilette nicht mehr bis zur Heimkehr aufschieben konnte, da ich oft über 12 Stunden weg war) den Gang zur Toilette ganz genau. Ich beobachtete die Tür genau, das Ein und Aus, passte meine Geschwindigkeit genau der Entfernung an, war ich weiter weg, ging ich langsam, beobachtete ob jemand Anderes auch auf diese Tür zu ging und gab Leuten die sich evtl. noch im Raum befanden die Gelegenheit ihr Geschäft zu verrichten bevor ich an der Tür ankam. Sobald ich in geringerer Entfernung war und keiner vor mir den Raum betreten hatte, rannte ich fast auf die Tür zu und bemühte mich anzufangen, bevor jemand Anderes den Raum betrat.

Bei mir ist es nämlich so: Wenn es erst mal läuft habe ich keine Probleme mehr, wenn jemand Anderes dazu kommt aber so lange jemand Anderes mit im Raum bzw. in Sichtweite ist, kann ich nicht anfangen und dann kommt auch genau das, was andere auch beschrieben haben. Man gerät fast in Panik, weil man weiß, dass die anderen Personen eigentlich wenn sie auch nicht alles sehen könne zumindest ein Plätschern hören müssten, doch nichts passiert.

Die Fortschritte die ich in meiner Entwicklung gemacht habe sind wohl das weiteste das ich ohne fremde Hilfe erreichen kann, weil jetzt geht es eben darum, die Anwesenheit von Anderen zu trainieren. Ich habe praktisch noch mit niemandem darüber gesprochen und hänge jetzt in meiner Situation schon wieder einige Zeit fest. Ich entwickele großen Neid gegenüber Personen die überall in jeder Situation egal wie viele Personen um sie rum sind einfach Hose auf und laufen lassen können. Solche Dinge brennen sich regelrecht in meinem Gedächtnis fest und ich muss ständig an meine Unfähigkeit denken, was zusätzlich zu den eigentlichen Problemen eine Belastung darstellt.

Warum ihr alle so ein englischsprachiges Buch schwärmt ist mir allerdings etwas rätselhaft. Bücher können, so meine Erfahrung, Probleme nicht lösen. Und ich glaube auch, dass ich alles was ich über dieses Problem wissen muss auch schon weiß. Ich habe ein Buch zu einem anderen Thema gelesen. Es ging um das sich zur Wehr setzten gegen Verbalangriffe, eine Sache die mir auch einige Schwierigkeiten bereitet. Ein wirklich tolles Buch aber ich bin trotzdem noch der selbe Mensch, obwohl ich es gelesen habe. Allerdings wo ich jetzt eine Person finden soll, jemandem dem ich genug Vertrauen schenken kann, darüber zu sprechen und zu üben? Da bin ich völlig ratlos…

Guten Rutsch und frohes Pinkeln
Michael

Eintrag vom 04.09.2003

Heute sieht die Welt schon ganz anders aus. Jedenfalls bezüglich dieses einen Problems. Zunächst einmal etwas paradoxes. Ich bekomme es immer noch nicht gebacken, Leuten in meinem Umfeld (selbst denen, die von dem Problem wissen) zu sagen „Ich muss mal pinkeln“, „Ich muss mal pissen“ oder ähnlich (je nach Situation und Umfeld). All die Jahre habe ich diese Sätze nie gebrauchen müssen, weil meine Selbstkontrolle und mein Vermeidungsverhalten besonders ausgeprägt war und auch jetzt rede ich noch drum herum doch es ist sicherlich eine Frage der Zeit, bis ich das auch noch schaffen werde.

Jetzt zu der Erfolgsmeldung. Gestern in der Stadt: Ich war zuerst in einer richtig vollen Kneipe, hatte vorher schon eine Menge Flüssigkeit zu mir genommen (von nichts kommt nichts) und mich dann in die Höhle des Löwens begeben.

5 Urinale. 3 Kabinen, davon eine belegt. Am rechten Urinal war jemand am Pinkeln, im Vorraum (links) stand jemand einfach so herum. Ich stellte mich ans linke Urinal und konnte tatsächlich pinkeln (es dauerte zwar einige Sekunden aber immerhin). Dann kamen noch 2 Leute in den Toilettenraum, stellten sich an die beiden Urinale neben mich und aus der Kabine kam einer heraus und ich stand neben ihnen und pinkelte wie ein „Normalo“. Das war doch mal eine tolle Erfahrung. Später besuchte ich noch in einer anderen Kneipe die Toilette aber da war es so leer, dass dies überhaupt kein Problem darstellte.

Vor der Rückfahrt nach Hause, pinkelte ich noch mal in Anwesenheit eines Freundes auf dem Parkplatz in die Büsche. (Er weiß von der Problematik und deswegen ist es leichter als in Gegenwart von oberflächlich Bekannten aus dem Kollegenkreis oder so zu urinieren). Ihr werdet es sicher kaum nachvollziehen können aber ich meine es total ernst. Manchmal habe ich mittlerweile sogar das Gefühl, dass es richtig schade ist, wenn ich zu hause pinkle und niemand anderes dabei ist.

Ich bin sicherlich noch nicht vollkommen geheilt (insbesondere wegen der sprachlichen Barriere) und weil ich einige Situationen immer noch meide. Wären direkt drei der vier Urinale besetzt gewesen und ich hätte in die Mitte zwischen zwei andere Pinkler gemusst, wäre das sicher eine interessante Herausforderung. Das habe ich mich allerdings noch nicht getraut. Aber ich habe wirklich gewaltige Fortschritte gemacht.

Mein Dank gilt Herrn Hammelstein und dem Düsseldorfer Forschungsprojekt und der Seite http://www.paruresis-europa.de (damals noch http://www.paruresis.co.uk/) , durch die ich erst darauf aufmerksam wurde.

Eintrag vom 07.09.03

Ermutigt von den bisherigen Erfolgen habe ich heute wieder etwas Interessantes erlebt. Ich war in der selben Kneipe, wieder die fünf Urinale. Am linken und am rechten stand je ein Fußballfan und durch den Raum hinweg unterhielten sie sich lautstark miteinander. Ich habe kurz überlegt und mich dann zwischen die beiden an das mittlere Urinal gestellt. Bei dem rechten lief es schon und auf den linken habe ich gar nicht geachtet. Es hat zwar einige Sekunden gedauert aber dann konnte ich auch pinkeln und das witzige für mich war, dass der linke Fußballfan plötzlich sagte „so kann ich nicht pissen“ und in die Kabine verschwand.

Wahnsinn und ich stand da und es lief. Das hat mir wirklich den Abend gerettet. Dann kamen natürlich noch Leute dazu, viel Rennerei hinter mir in die Kabinen rein und so, aber das war dann kein Problem mehr. Unglaublich. Vor ein paar Monaten hätte ich nie gedacht, dass das so schnell gehen kann.

Jetzt hoffe ich natürlich auch wieder ermutigt auf Fortschritte bei meinen anderen, noch sehr stark vorhandenen Problemen.

Michael